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Der Weg zum kantonalen Frauenstimm- und -wahlrecht

Am 12. Dezember 1971 erhalten Frauen im Kanton Bern das Stimm- und Wahlrecht für kantonale und kommunale Angelegenheiten. Der Kampf der Frauen für ihre politischen Rechte hat über 100 Jahre gedauert. Hier finden Sie einen Überblick über die Berner Geschichte des Frauenstimmrechts und Einblicke in die kantonalen Besonderheiten.

Berner Geschichte des Frauenstimm- und -wahlrechts

Die Geschichte der politischen Rechte der Bernerinnen ist gezeichnet von einem langen und mühevollen Weg mit kleinen Fortschritten und vielen Rückschlägen. Getragen wird der Kampf für die politische und gesellschaftliche Gleichstellung der Frau von vielen herausragenden Frauen, zahlreichen Frauenvereinen und deren Mitstreiterinnen. Im Einsatz um das Stimmrecht beweisen die Bernerinnen Engagement, Beharrlichkeit und eine hohe Frustrationstoleranz.

Tellpflichtiges Stimmrecht

In der Republik Bern verfügen wohlhabende Frauen im 19. Jahrhundert bereits einmal über ein Stimmrecht. Das erste Berner Gemeindegesetz von 1833 verankert das sogenannte «tellpflichtige Stimmrecht». Dieses Gesetz berechtigt vermögende und steuerpflichtige Personen zur Stimmabgabe in Gemeindeangelegenheiten. Das Geschlecht spielt dabei keine Rolle. Eigenständig dürfen die Frauen jedoch nicht abstimmen, sondern sie müssen einen männlichen Vertreter mit der Stimmabgabe beauftragen.

1852 wird dieses Recht auf steuerpflichtige Witwen und ledige Frauen beschränkt. 1887 kommt es zur gänzlichen Abschaffung des Frauenstimmrechts auf Gemeindeebene. Begründet wird dies mit der Unvereinbarkeit des Frauenstimmrechts mit Artikel 4 der Schweizerischen Bundesverfassung – dem Gebot der Rechtsgleichheit. Denn das tellpflichtige Stimmrecht schliesst alle nicht steuerpflichtigen Frauen aus. Obwohl dieser Ausschluss ebenso auf die männliche Bevölkerung zutrifft, wird das Stimmrecht nur den Frauen entzogen. Ein schriftlicher Protest von 60 angesehenen wohlhabenden Bernerinnen bleibt ohne Erfolg. Es dauert ganze 84 Jahre, bis sich die Frauen im Kanton Bern ihr Stimm- und Wahlrecht zurückerkämpfen.

Erstes Berner Gemeindegesetz von 1833 mit «tellpflichtigem Stimmrecht». Foto: E-Periodica

Berner Frauenbewegung

Inspiriert von den Frauenrechtsbewegungen in anderen Ländern beginnen sich auch Frauen in der Schweiz zunehmend in politischen Frauenvereinen zu organisieren. Zu den bedeutendsten Berner Frauenrechtlerinnen und Vertreterinnen der frühen Stimmrechtsbewegung gehört Helene von Mülinen.

Helene von Mülinen engagiert sich für die Vernetzung von Frauen auf nationaler und internationaler Ebene. Sie ist aktives Mitglied des 1883 gegründeten Frauenkomitees Bern. Diese Vereinigung von Frauen aus der Berner Oberschicht setzt sich intensiv mit der politischen und rechtlichen Stellung der Frauen auseinander. Als Expertinnen beraten die Mitglieder des Frauenkomitees den Bundesrat sowie das Parlament und regen zur Bildung weiterer progressiver Frauenvereine an.

Mit anderen Mitstreiterinnen, wie Emma von Pieczynska-Reichenbach, gründet Helene von Mülinen 1896 die Symphonische Gesellschaft in Bern (später Frauenkonferenzen zum Eidgenössischen Kreuz genannt). Aus den Berner Frauenkonferenzen entsteht 1908 der Bernische Verein für Frauenstimmrecht.

Berner Vorkämpferinnen fürs Frauenstimm- und -wahlrecht. Foto: Burgerbibliothek Bern, Gosteli-Stiftung, Staatsarchiv des Kantons Bern, Schweizerisches Sozialarchiv. Schweizerische Nationalbibliothek

Erste politische Vorstösse

Erstmals diskutiert das kantonale Parlament die Einführung eines kommunalen Frauenstimmrechts 1917 anlässlich der angestrebten Änderung des Gemeindegesetzes. Ein Antrag der SP sowie eine von Frauen eingereichte Petition fordern, das Frauenstimmrecht auf Gemeindeebene im neuen Gemeindegesetz zu verankern. Der Vorstoss wird vom Grossen Rat abgelehnt. Im Zuge der Änderung des Gemeindegesetzes erfolgt immerhin die Einführung der fakultativen Wählbarkeit von Frauen in Schulkommissionen, Kommissionen für Armenwesen, für Gesundheitswesen und für Kinder- und Jugendfürsorge.

Unter der Leitung von Marie Boehlen lanciert das Aktionskomitee des Frauenstimmrechtsvereins 1945 eine Petition zur fakultativen Einführung des Frauenstimmrechtes auf Gemeindeebene. Es gelingt den Frauen, mit 50'218 Unterschriften die bislang grösste Petition des Kantons Bern auf die Beine zu stellen. Die Petition wird vom Regierungsrat nie behandelt.

Ein friedlicher Demonstrationszug von Frauen jeden Alters in Richtung Berner Rathaus zur Uebergabe einer Petition fuer das Frauenstimmrecht, Bern, 16. Mai 1945. (KEYSTONE/Photopress-Archiv/Str)
Frauen reichen die bislang grösste Petition des Kantons Bern am 16. Mai 1945 ein. Foto: Keystone

Anstatt sich vom demonstrativen Desinteresse der Politiker entmutigen zu lassen, lancieren die Frauen eine Gesetzesinitiative. Sie überzeugen über 33'000 Männer, die Gesetzesinitiative zur Einführung des vollen Stimm- und Wahlrechts auf Gemeindeebene zu unterschreiben. Es ist die erste von Frauen eingereichte Initiative in der Schweiz. Am 17. Juli 1953 übergibt Marie Boehlen die Initiative der Regierung. Zur Abstimmung kommt der Gegenvorschlag, der nur ein fakultatives Stimmrecht auf Gemeindeebene vorsieht.

Eine Abordnung des Initiativkomitees fuer die Mitarbeit der Frau in der Gemeinde mit Praesidentin Marie Boehlen, Mitte, wird im Juli 1953 vom Regierungspraesidenten des Kantons Bern Georges Moeckli, links, zur Uebergabe des Volksbegehren zum kommunalen Stimm- und Wahlrechts der Bernerinnen empfangen. (KEYSTONE/PHOTOPRESS-ARCHIV/Kraft)
Marie Boehlen übergibt die Gesetzesinitiative am 17. Juli 1953. Foto: Keystone

Die Strategie «von unten nach oben»

Die Berner Stimmrechtsbewegung will das Stimmrecht von «unten nach oben» erkämpfen: von der Gemeinde- über die Kantons- zur Bundesebene. Sie argumentiert, dass die fakultative Einführung des Stimmrechts die Gemeindeautonomie stärkt. Zudem befürworten viele Bürgerinnen und Bürger, dass Frauen auf der Gemeindeebene Einblick in die Politik erhalten und damit auf die kantonale und die Bundesebene vorbereitet werden.

Trotz des strategischen Vorgehens «von unten nach oben» und der unermüdlichen Aufklärungsarbeit lehnt das männliche Stimmvolk den Gegenvorschlag zur Frauenstimmrechts-Initiative auf Gemeindeebene 1956 ab.

Die ebenfalls gescheiterte Eidgenössische Abstimmung zum Frauenstimm- und -wahlrecht auf Bundesebene von 1959 bestärkt die Frauen, auf Gemeindeebene weiterzukämpfen: In den Städten Bern und Biel sowie den frankophonen Sprachregionen votieren die Männer für die Einführung des Frauenstimmrechts. Auf dem Land hingegen finden gleiche politische Rechte für Mann und Frau keine Mehrheit. Mit der Strategie, das fakultative Frauenstimmrecht auf Gemeindeebene zu fordern, soll der Weg für die Einführung des Frauenstimmrechts in den fortschrittlichen Gemeinden geöffnet werden.

Werbeplakate für und gegen das Frauenstimmrecht. Foto: Gosteli-Stiftung, AGoF Plakatsammlung

Die Stimmrechtskämpferinnen verteilen Flugblätter, Broschüren und führen eine eigene Zeitung, die «BERNA». Um Unterstützerinnen und Unterstützer zu gewinnen, halten sie Vorträge, organisieren Kundgebungen und bieten ab 1957 staatsbürgerliche Kurse in ländlichen Gemeinden des Kantons Bern an. Zwölf Jahre später, 1968, wird die Vorlage der fakultativen Einführung des Frauenstimmrechts auf Gemeindeebene erneut den Stimmbürgern vorgelegt und von einer Mehrheit angenommen.

Am 7. Februar 1971 sagen 65.7 Prozent der Schweizer «Ja» zum eidgenössischen Frauenstimm- und -wahlrecht. 67.5 Prozent der Berner sprechen sich für das neue Recht aus. Nach der Annahme des fakultativ einführbaren Frauenstimmrechts auf Gemeindeebene und des Stimmrechts auf Bundesebene, spricht nichts mehr gegen die Einführung auf kantonaler Ebene und in allen Gemeinden. Im bernischen Grossen Rat wird im September 1971 die Abänderung der Staatsverfassung und des Gesetzes über das Gemeindewesen einstimmig angenommen. Zehn Monate später, am 12. Dezember 1971, stimmen auch die Berner für die Annahme des Frauenstimm- und -wahlrechts auf kantonaler und kommunaler Ebene.

Abstimmung über das Frauenstimmrecht im Grossen Rat im September 1971. Foto: Tagblatt des Grossen Rates, September 1971, S. 598f

Institutionelle Meilensteine nach der Einführung des Frauenstimmrechts

Im Mai 1974 finden die ersten bernischen Grossratswahlen statt, bei welchen Frauen kandidieren dürfen. Von den 1'149 Kandidierenden sind 183 Frauen. Zehn Frauen gelingt die Wahl in den Grossen Rat: Marie Boehlen, Odette Bretscher-Bickel, Susanne Burke-Salvisberg, Monika Etter, Ruth Geiser-Im Obersteg, Ruth Hamm-Schärer, Marion Kretz-Lenz, Claire-Lise Renggli, Agnes Sauser-Im Obersteg und Hanna Schweizer-Ruchti.

Zehn Berner Grossrätinnen 1974 vor dem Rathaustor
Die ersten zehn Grossrätinnen des Kantons Bern werden 1974 gewählt. Foto: Gosteli-Stiftung, AGoF 566-89, Fotografin: Greti Oechsli

Mit der Volksabstimmung vom 14. Juni 1981 zum Bundesbeschluss vom 10. Oktober 1980 über die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Frau und Mann» (Gegenvorschlag) wird der Grundsatz der Gleichstellung von Frau und Mann in allen Lebensbereichen in der Bundesverfassung verankert.

Marie Boehlen reicht deshalb 1981 im bernischen Grossen Rat das Postulat ein, eine kantonale Stabstelle für Frauenfragen einzurichten. Das Postulat wird mit der Bedingung angenommen, anstelle einer Stabstelle eine Kommission einzurichten. Die ausserparlamentarische Kommission «Gleiche Rechte für Mann und Frau» überprüft die kantonale Gesetzgebung auf die Gleichstellung von Frau und Mann in den Gesetzen.

1986 werden im Grossen Rat gleich zwei Motionen zu einer kantonalen Gleichstellungsinstitution eingereicht: eine von Joy Matter mit acht Mitunterzeichnenden zur Schaffung einer Stabstelle für die Gleichberechtigung von Frau und Mann und eine von Sylviane Zulauf mit elf Mitunterzeichnenden zur Schaffung eines Büros für Frauenrechte. Entsprechend dem Antrag des Regierungsrats nimmt der Grosse Rat die Motionen als Postulate entgegen und debattiert ausführlich darüber. Die Verordnung über die kantonale Stelle für die Gleichstellung von Frauen und Männern und die Kantonale Frauenkommission tritt schliesslich 1990 in Kraft. Der Regierungsrat ernennt Marie-Louise Barben als Fachstellenleiterin. Joy Matter wird die erste Präsidentin der Frauenkommission.

Mit der kantonalen Verfassungsrevision von 1993 findet die Gleichstellung von Frauen und Männern Eingang in die neue kantonale Verfassung. Artikel 10 verankert, dass Mann und Frau gleichberechtigt sind und verpflichtet den Kanton sowie die Gemeinden zur Förderung der tatsächlichen Gleichstellung von Mann und Frau.

Meilensteine der politischen Gleichstellung von Frau und Mann im Überblick

Mehr zu den Pionierinnen und zum 50-Jahre-Jubiläum

  • Pionierinnen in der bernischen Politik: Biographien und Videos

  • 50 Jahre Frauenstimm- und -wahlrecht im Kanton Bern

Literatur zur Geschichte des Frauenstimmrechts

  • Gonzenbach, Adrienne: Die bernische Frauenbewegung 1941 – 1971: Zum Jubiläum «10 Jahre Frauenstimmrecht» aus dem eigenen Erleben von Adrienne Gonzenbach, o.V., Bern, 1981.
  • Hardmeier, Sibylle: Frühe Frauenstimmrechtsbewegung in der Schweiz (1890-1930). Argumente, Strategien, Netzwerk und Gegenbewegung, Chronos Verlag, Zürich, 1997.
  • Lüscher, Liselotte: Eine Frau macht Politik. Marie Boehlen 1911-1999, Limmat Verlag, Zürich, 2009.
  • Seitz, Werner: Auf die Wartebank geschoben. Der Kampf um die politische Gleichstellung der Frauen in der Schweiz seit 1900, Chronos Verlag, Zürich, 2020.
  • Wegmüller, Renate: «Die Frau gehört ins Haus». Frauenstimmrecht und seine Hindernisse in der Schweiz und im Kanton Bern – zugleich ein Beitrag zu Art. 4 Abs. 2 BV, Lizenziatsarbeit Seminar für öffentliches Recht der Universität Bern, Edition Soziothek, Bern, 2000.
  • Woodtli, Susanna: Gleichberechtigung. Der Kampf um die politischen Rechte der Frau in der Schweiz, Verlag Huber, Frauenfeld, 1983(2).
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